Geschichte des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof: Die Chronologie des Grauens (Teil 1)

50 Kilometer südwestlich von Straßburg steht das einzige ehemalige nationalsozialistische Konzentrationslager auf französischem Boden, errichtet nach der Annektion des Elsass 1940 durch die Wehrmacht. Mussten die Gefangenen zu Beginn noch Gestein für die aberwitzigen Bauprojekte von Hitlers Lieblingsarchitekten abbauen, wurden sie gegen Kriegsende dazu gezwungen, für die deutsche Rüstungsindustrie schuften. Doch eines blieb in den vier Jahren seines Bestehens unverändert: Das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof war ein zentraler Kristallationspunkt des menschenverachtenden Unterdrückungs- und Ausbeutungssystems des NS-Regimes.

Wer durch das Tor ging, verlor seinen Namen und wurde zur Nummer.

Der Ort jenseits des Tors war ein Ort des Grauens.

Die Gefangenen des Konzentrationslager Natzweiler-Struthof, einem zentralen Schauplatz der NS-Vernichtungsmaschinerie, erlebten mit ihrer Inhaftierung den vollständigen Verlust ihrer Menschenrechte. Die Nazis sprachen ihnen nicht nur ihre Identität, ihr Recht auf Menschlichkeit ab. Sie zwangen tausende Männer und Frauen aus ganz Europa trotz unfassbar grausamen Haftbedingungen für die deutsche Kriegswirtschaft zu schuften und in einem nahe gelegenen Steinbruch Ressourcen für die Baupläne der NS-Führung abzubauen. Pläne, für die kein Opfer zu groß war und die vom wahnhaften Denken der NS-Führung zeugen. In den knapp vier Jahren seines Bestehens waren allein im Stammlager Natzweiler etwa 15.000 Menschen unter schrecklichen Bedinungen gefangen, weitere 35.000 in den zahlreichen Außenlagern. Ein Großteil dieser Menschen überlebte die Gefangenschaft nicht.

Diese Rolle spielte das Lager in den Plänen des NS-Regimes

Einer derjenigen, die den Bau des KZ Natzweiler-Struthof veranlasst haben, ist der in Mannheim geborene Albert Speer (1905-1981). Speer, ehrgeiziger Architekt und Nationalsozialist, ist einer der bekanntesten Vertreter des Nazi-Faschismus. Er gehörte im Dritten Reich zur nationalen Elite und stand schon früh hoch in der Gunst Adolf Hitlers (1889-1945). Als Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt unterhielt Speer enge Beziehungen zum Führer und verantwortete in dessen Auftrag zahlreiche monumetale Bauvorhaben, die die Größe und Macht des NS-Regimes widerspiegeln sollten, darunter das Berliner Olympiastadion, die Neue Reichskanzlei, die Hitler und der NS-Regierung als Sitz diente, sowie das Parteitagsgelände in Nürnberg, auf dem die jährlichen NSDAP-Parteitage stattfanden.

Hitler zusammen mit Albert Speer im Juni 1939 auf dem Obersalzberg. Sie besprechen gerade Speers Baupläne für ein neues Opernhaus in Linz.

Speer strebte, bestärkt von Hitler, nichts Geringeres an als die völlige Neugestaltung Berlins zur Reichshauptstadt „Germania“, die den Mittelpunkt eines vermeintlich bevorstehenden großgermanischen Weltreichs bilden sollte. Seine ihm vom Führer zugedachte Aufgabe bestand darin, eine neue, gewaltige architektonische Identität im Sinne der nationalsozialistischen Vision eines zur Weltherrschaft bestimmten deutschen Volkes zu schaffen. Auf der Suche nach geeigneten Quellen für die Unmengen an benötigtem Baumaterial richtete sich sein Blick nach Westen.

Nachdem die deutsche Wehrmacht im Zuge des Westfeldzuges und der Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 das Elsass annektiert hatte, konnte die NS-Führung mit der wirtschaftlichen Nutzbarmachung der Region beginnen. Besonderes Augenmark lag dabei auf einem Steinbruch, der sich auf dem Nordhang eines Vogesengipfels unweit der Ortschaft Natzweiler befand und aus dem sich Granit mit seltener roter Färbung gewinnen ließ. Albert Speer persönlich hatte bei einer Besichtigung vor Ort offenbar Gefallen am elsässischen Granit gefunden und regte die Ausbeutung des Steinbruchs an.

Reichsführer SS Heinrich Himmler.

Organisatorisch wurde der Abbau des Granits über die Deutschen Erd- und Steinwerke (DEST) abgewickelt. Die DEST waren das erste und eines von vielen Unternehmen, die vom Reichsführer SS, Heinrich Himmler, mit der Absicht gegründet worden waren, durch die möglichst effiziente Ausbeutung von Zwangsarbeitern die Profite für die SS zu maximieren sowie politische Gegner auf diese Art zu brechen. Die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft durch die DEST hatte sich in der Vergangenheit bereits bewährt. Das Unternehmen betrieb seit 1938 mehrere Steinbrüche in unmittelbarer Umgebung von Konzentrationslagern wie beispielsweise Mauthausen, Groß-Rosen oder Flossenbrück, in denen die Häftlinge Zwangsarbeit leisten mussten. Von diesem System haben etliche deutsche Industrieunternehmen profitiert, darunter BMW, Siemens, Daimler-Benz, Volkswagen, Krupp und viele mehr.

Die ersten Häftlinge kommen an

Der SS-Geologe Karl Blumberg bekam im September 1940 den Auftrag, alle nötigen Vorbereitungen für den Abbau des Gesteins am Steinbruch auf dem Struthof zu treffen. Konnte er zunächst noch auf Zivilarbeiter aus der unmittelbaren Umgebung zurückgreifen, trafen in der ersten Jahreshälfte 1941 die ersten Zwangsarbeiter, etwa 300 Personen aus dem nördlich von Berlin gelegenen KZ Sachsenhausen, am Bahnhof der Ortschaft Rothau ein. Dieses sogenannte Baukommando war anfänglich für den Bau von Behelfsbaracken auf dem späteren Lagergelände sowie der über fünf Kilometer langen Zufahrtsstraße zwischen Rothau und dem Lager am steilen Nordhang des Mont Louise abgestellt. Als die Straße fertig war, mussten sie anschließend das Gelände des späteren KZs abholzen und terassenförmig einebnen, um darauf schließlich die ersten dauerhaften Baracken zu errichten.

Die terassenförmige Anordnung der Baracken.

Die Errichtung des Konzentrationslagers Natzweiler-Struthof diente neben dem Abbau der natürlichen Ressourcen auch konketen machtpolitischen Zielen der herrschenden Klasse und stand ganz im Sinne der seit Beginn des Zweiten Weltkriegs verfolgten Politik der Ausweitung des nationalsozialistischen Lagersystems auf die besetzen Gebiete. Die bis 1939 aufgebauten sechs Konzentrationslager Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald, Ravensbrück, Flossenbürg und Mauthausen erschienen der SS-Führung bald als nicht mehr ausreichend, um ihre Macht in den besetzten Gebieten dauerhaft und flächendeckend durchzusetzen, d.h. die Menschen ihrer Kontrolle zu unterwerfen sowie politische Gegner, rassistisch Verfolgte und Widerstandskämpfer einzusperren. Um dies zu erreichen, ließ sie bis ins Jahr 1942 fünf weitere Konzentrationslager errichten: Auschwitz, Groß-Rosen und Majdanek im Osten sowie Neuengamme nahe Hamburg und Natzweiler-Struthof im Westen. An jedes dieser Lager waren nochmal dutzende Nebenlager angegliedert.

Das Lager wird eröffnet

Am 1. Juni 1941 wurde das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof offiziell eröffnet.

Das Eingangstor zum Lager.

Die SS-Führung teilte die Konzentrationslager des Dritten Reiches in drei Kategorien ein, deren Bestimmung von Umerziehung über Bestrafung bis hin zur physischen Vernichtung reichte. Die jeweilige Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kategorie definierte die Härte der Haftbedingungen.

In seiner damaligen Funktion als Polizeipräsident von München veranlasste Himmler im Jahr 1933, als nach der Machtübernahme der Nazis die ersten Verhaftungswellen durchs Land rollten und der Platz in den reguläten Gefängnissen knapp wurde, die Errichtung des ersten nationalsozialistischen Konzentrationslagers im bayerischen Dachau. Dieses Lager der Stufe 1 war für politische Gefangene bestimmt – Kommunisten, Sozialdemokraten, Gewerkschafter. Menschen also, die einzig und allein wegen ihrer weltanschaulichen Überzeugungen oder politischen Aktivitäten zur „Schutzhaft“ dort festgehalten wurden. Sie sollten durch Arbeit „umerzogen“ werden. Viele weitere Lager dieser Kategorie sollten in den darauffolgenden Jahren hinzukommen.

Nach Kriegsausbruch im Jahr 1939 folgten in den besetzen Gebieten, vor allem im Osten, Lager der Stufe 2. Unter den Insassen befanden sich hierbei „schwer belastete, aber noch erziehungs- und besserungsfähige Schutzhäftlinge“, für die eine längere Haftzeit und noch härtere Bedingungen kalkuliert waren. Die Lager der Kategorien 1 und 2 werden Konzentrations- oder Arbeitslager genannt. Hier stand in erster Linie nicht die Vernichtung der Häftlinge im Mittelpunkt, sondern deren Ausbeutung.

1941 ordnete Himmler, jetzt als SS-Chef, die Einteilung einer dritten Kategorie an. In Stufe 3 fielen „schwer belastete, insbesondere auch gleichzeitig kriminell vorbestrafte und asoziale, d.h. kaum noch erziehbare Schutzhäftlinge“, d.h. Juden, Sinti und Roma, Homosexuelle, und später auch Kriegsgefangene aus den osteuropäischen Ländern wie Polen oder Russland, in den Augen der Nazis „unwertes Leben“. Eine Einweisung in ein Lager der Stufe 3, ein sogenanntes Vernichtungslager, bedeutete faktisch eine Verurteilung zur „Vernichtung durch Arbeit“. Häftlinge dieser Kategorie waren de facto Todeskandidaten, deren Arbeitskraft bis zum Tod durch Erschöpfung ausgenutzt wurde. Um Kosten zu sparen, wurde ihre Versorgung mit Lebensmitteln, Medikamenten etc. auf ein Minimum reduziert. Eine Entlassung war nicht vorgesehen. Die ersten Gaskammern ab dem Jahr 1941 waren dafür bestimmt, sich kranken und arbeitsunfähigen Häftlingen zu entledigen.

Das Konzentrationslager Natzweiler-Struthof war ein Lager der Stufe 2. Hier waren vor allem politische Gefangene, osteuropäische Kriegsgefangene und Widerstandskämpfer der französischen Untergrundbewegung Résistance inhaftiert.

Zur Lagerleitung gehörten der Kommandant, der Schutzhaftlagerführer, der Arbeitsdienstführer sowie für jede Baracke ein Blockführer. Die interne Verwaltung wurde von der SS an Insassen übergeben, in dem sie einen Lagerältesten und für jede Baracke einen Blockältesten ernannten. Den sogenannten Kapos kam eine besondere Rolle zu: Sie waren selbst Häftlinge, bekamen von der SS jedoch verschiedene Aufgaben zugeteilt, zu denen die Aufsicht und Bestrafung von Mithäftlingen gehörte. Sie entwickelten in vielen Fällen selbst sadistische Tendenzen und standen dem SS-Personal bezüglich Grausamkeit und Willkür oft in nichts nach.

Erster Lagerkommandant ernannt

SS-Führer Hans Hüttig war der erste Lagerkommandant in Natzweiler-Struthof.

Als erster Lagerkommandant wurde am 17. April Hans Hüttig (1894-1980) ernannt. Seit Mitte der 1920er Jahre war er in nationalistischen und demokratiefeindlichen Organisationen wie dem „Stahlhelm, Bund der Frontsoldaten“ aktiv. Noch vor der Machtergreifung Hitlers trat Hüttig am 1. Mai 1932 der NSDAP (Mitgliedsnummer 1.237.620) und der SS (SS-Nummer 127.673) bei, was darauf schließen lässt, dass er sich nicht aus Opportunismus, sondern aus Überzeugung der nationalsozialistischen Bewegung anschloss. Er konnte dort die Militärkarriere einschlagen, die ihm als einfacher Soldat während des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik verwehrt blieb. Als hauptamtliches Mitglied der SS-Totenkopfverbände, der für die Bewachung der Konzentrationslager zuständigen Organisation, war Hüttig bereits ab 1933 in den Lagern Sachsenburg, Dachau, Lichtenwald und Buchenwald tätig. Er verfügte also schon zum Zeitpunkt seiner Ernennung als Lagerkommandant über langjährige Erfahrung als KZ-Aufseher und hatte ausreichend Einblicke in die organisatorischen Strukturen eines Konzentrationslagers, was ihn für diese Aufgabe prädestinierte.

Nach Abschluss der Aufbauphase bestimmte vor allem die auszehrende und gefährliche Arbeit in den verschiedenen Arbeitskommandos im Lager und im Steinbruch das Leben der Häftlinge. Die Sterberate unter den Insassen war schon zu Beginn außergewöhnlich hoch: Von den rund 900 Menschen, die in den ersten Monaten nach Natzweiler gebracht wurden, verblieben nach einem halben Jahr nur noch 446. Die anderen hatten unter den harten Bedingungen ihr Leben verloren oder waren als „arbeitsunfähig“ in andere Lager überstellt worden.

Neue Formen der Repression

Mit der zum 1. April 1942 erfolgten Ernennung des SS-Sturmbannführers und Nationalsozialisten der ersten Stunde, Egon Zill (1906-1974, NSDAP-Mitgliedsnummer 20.063, SS-Nummer 535) als neuen Lagerkommandanten begann eine neue Phase, in der sich die grausamen Bedingungen im Lager weiter verschärften und neue Methoden zur Drangsalierung, Folter und Ermordung der Insassen zum Einsatz kamen. So nutzte Zill das Lager ab September 1942 zunehmend als Exekutionsstätte für Menschen, die keine Insassen waren, sondern die er auf Anweisung der Gestapo einzig und allein für den Zweck ihrer Ermordung ins Lager bringen ließ. Für diese Hinrichtungen war eigens eine Genickschussanlage angeschafft worden. Hunderte Menschen, vor allem Polen und Russen, kamen im Rahmen solcher „Sonderexekutionen“ zu Tode.

Unter der Kommandantur Egon Zills fanden die ersten pseudomedizinischen Versuche an Menschen statt.

In Zills Amtszeit als Kommandant fiel auch der Beginn der ersten pseudomedizinischen Versuche an Menschen. Es handelte sich dabei um Experimente zur Erforschung verschiedener Gase und deren Tauglichkeit für den Kriegseinsatz. An den Lagerinsassen sollte deren tödliche Wirkung auf den menschlichen Organismus untersucht werden. Die Experimente begannen im Oktober 1942 und sollten auf immer grausamer werdende Art und Weise noch bis zur Auflösung des Lagers Ende 1944 andauern.

Als sogenanntes geschlossenes Lager wurden zunächst nur Insassen anderer Konzentrationslager nach Natzweiler verschleppt. Erst am 15. August 1942 wird Natzweiler zu einem offenen Lager, zu einem sogenannten „Einweisungslager“ erklärt. Von nun an wurden auch Häftlinge dorthin gebracht, die zuvor nicht in einem anderen KZ gefangen waren, darunter viele Zivilisten und Kriegsgefangene aus den eroberten Ostgebieten. Mit dieser Maßnahme ging auch ein rasanter Anstieg der Häftlingszahlen einher: Waren zu im Sommer 1942 rund 600 Insassen registriert, stieg die Zahl bis Dezember auf 921, im Januar 1943 auf etwa 1500.

Zwangsarbeit für die Rüstungsindustrie

Der zunahmende Anzahl der Häftlinge im KZ Natzweiler – in weniger als einem halben Jahr hatte sie sich mehr als verdoppelt – ist auf grundlegende Umstrukturierungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Lagersystems zurückzuführen, die die SS-Führung bereits Anfang 1942 beschlossen hatte. Weil der Krieg gegen die Sowjetuntion im Osten sowie gegen England und die Vereinigten Staaten im Westen länger dauerte als ursprünglich geplant und der materielle Bedarf der Wehrmacht an Waffen und Munition immer weiter stieg, ging das NS-Regime dazu über, die gesamte deutsche Wirtschaft auf die Produktion von Rüstungsgütern auszurichten, was auch den vermehrten Einsatz von KZ-Häftlingen in Unternehmen der Rüstungsindustrie miteinschloss.

Konkret bedeutete dies:

  1. Die größflächige Verschleppung und Inhaftierung von osteuropäischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen in die Konzentrationslager zur Gewinnung von Arbeitskräften
  2. Die Deportation der inhaftierten Jüdinnen und Juden, darunter auch Personen aus Natzweiler, zur Ermordung in das Konzentrationslager Auschwitz unter der Annahme, auf die Arbeitskraft der Jüdinnen und Juden nicht mehr angewiesen zu sein

Zudem trat Ende Oktober 1942 mit Josef Kramer (1906-1945) ein neuer Lagerkommandant an die Stelle Egon Zills. Kramer war 1931 in die NSDAP (Mitgliedsnummer 733.597) und 1932 in die SS (SS-Nummer 32.217) eingetreten. Unter seiner Ägide wurden die Arbeiten für die Rüstungsproduktion aufgenommen: Mehrere Baracken wurden im Steinbruch errichtet, in denen die Häftlinge unter anderem für die Junkers Flugzeug- und Motorenwerke schufften mussten. Dem gegenüber trat der Granitabbau immer mehr in den Hintergrund und wurde schließlich ganz eingestellt.

Für die von ihm an Häftlingen verübten Grausamkeiten wurde Josef Kramer nach Kriegsende zum Tode verurteilt und hingerichtet.

Ebenfalls in die Amtszeit Kramers fallen drei weitere Entwicklungen, die die Lagergeschichte entscheiden geprägt haben. Zum einen das Schicksal der sogenannten „Nacht-und-Nebel-Häftlinge“, d.h. französischer Widerstandkämpfer, die auf direkten Befehl Hitlers in den deutschen Konzentrationslagern spurlos verschwinden sollten, ohne dass in ihren Heimatländern Informationen über ihr weiteres Schicksal bekannt wurden. Zum anderen die medizinischen Versuche an Menschen, geplant und durchgeführt von Medizinern und Biologen der Reichsuniversität Straßburg, die bereits unter Kramers Vorgänger begonnen hatten und unter seiner Leitung intensiviert wurden. Auch die Ermordung von 86 Juden, deren Skelette für eine anatomische Lehrsammlung verwendet werden sollten, fällt in diese Zeit. Federführend waren in diesen Angelegenheiten die NS-Ärzte Eugen Haagen (1898-1972) und Otto Bickenbach (1901-1971) beteiligt. Die seit 1943 in Betrieb stehende Gaskammer des Lagers wurde in diesem Zusammenhang gebaut.

NS-Ärzte im Deckmantel der Wissenschaft

Nach seiner Berufung als Professor an die feierlich neu eröffnete Reichsuniversität Straßburg im Oktober 1941 war Haagen (NSDAP-Mitgliedsnummer 5.973.629) Direktor des dortigen Hygienischen Instituts. Im Laufe seiner akademischen Karriere absolvierte er unter anderem einen Gastaufenthalt in den USA und war ab 1933 am Robert-Koch-Institut beschäftigt. Durch die Entwicklung eines Typhusimpfstoffes gelangte er in den 1930er-Jahren sogar auf die Kandidatenliste für den Nobelpreis der Medizin. Nachdem er diverse Versuche mit Typhuserregern an Tieren vorgenommen hatte, weitete er seine grausamen Untersuchungen auf Häftlinge des Lagers Netzweiler aus, vor allem Sinti und Roma. Viele kamen dabei ums Leben.

Bickenbach trat 1933 der NSDAP (Mitgliedsnummer 1.924.430) und der SA bei. Ab April 1934 war er kurzzeitig kommissarischer Leiter der Medizinischen Klinik der Universität Freiburg, anschließend wechselte er als Oberarzt an die Universitätsklinik Heidelberg, bevor er 1941 als außerordentlicher Professor nach Straßburg berufen wurde. Von Juni bis August 1944 führte er in der Gaskammer des KZ Natzweiler Giftgasversuche an Häftlingen, vor allem Sinti und Roma, durch. Mehr als 50 von ihnen wurden im Zuge dieser Versuche ermordet.

August Hirt wurde nach Kriegsende in Abwesenheit zum Tode verurteilt. Er hatte sich zuvor im Schwarzwald versteckt und beging Anfang Juni 1945 Selbstmord.

Diese unmenschlichen Aktivitäten unter dem Deckmantel der Wissenschaft gipfelten in dem von Himmler konzipierten und vom damaligen Direktor des Anatomischen Instituts der Universität Straßburg, August Hirt (1898-1945), ausgeführten Plan, eine anatomische Skelettsammlung aufzubauen, um die angebliche rassische Unterlegenheit der Juden darzustellen. Hierfür wählten die Verantwortlichen eigens 86 Juden im KZ Auschwitz aus, verschleppten sie nach Natzweiler und ermordeten sie im August 1943 in der dortigen Gaskammer. Mit diesen grausamen, pseudowissenschaftlichen Bestrebungen sollte im Rahmen des sogenannten „Ahnenerbe-Projekts“ die menschenverachtende NS-Rassentheorie untermauert werden, die die ideologische Grundlage für den Antisemitismus und Rassismus des Dritten Reiches bildete.

Die NS-Rassentheorie besagt, dass die Menschheit in verschiedene Rassen unterteilt sei, die hierarchisch aufeinander aufbauen. Demnach sei die vermeintlich überlegene, reinste und wertvollste unter ihnen, die arische Rasse, zu denen sich die Nazis zählen, dazu berufen, über andere, als „minderwertig“ angesehene Gruppen, insbesondere Juden, Sinti und Roma, Slawen und Schwarze, zu herrschen. Durch Zwangssterilisationen an körperlich und geistig Behinderten und das Euthanasieprogramm, d.h. die Tötung von physisch und psychisch Kranken auf staatlichen Befehl hin, sollte die „Rassenhygiene“ gewahrt bleiben. Jüdinnen und Juden stellten für die Nazis das größte Feindbild und die größte Bedrohung für die arische Rasse dar, was die Vernichtung von mehr als sechs Millionen europäischer Jüdinnen und Juden durch Nazi-Deutschland, den Holocaust, zur Folge hatte.

Gegen Kriegsende entstehen die ersten Außenlager

Unter dem Eindruck der zunehmend aussichtslosen militärischen Lage auf den Schlachtfeldern des Zweiten Weltkriegs aufgrund der anrückenden alliierten Truppen Frankreichs, Englands und der USA, die seit der Landung an der Normandie im Juni 1944 langsam die Oberhand im Krieg gegen Deutschland gewannen, begann die NS-Führung, eine Vielzahl von Außenlagern des KZ Natzweiler zu errichten, die sich vor allem auf dem Gebiet der heutigen Bundesländer Baden-Württemberg, Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland erstreckten. Immer mehr Häftlinge wurden in der zweiten Jahreshälfte in diese Außenlager verschleppt.

Waren im März 1944 in dem ursprünglich auf 1500 Personen ausgelegten Hauptlager über 5000 Menschen zusammengepfercht, so befanden sich in den vielen Außenlagern Mitte Oktober bereits knapp 19.000 Häftlinge. Dies Zahl stieg bis zur Jahreswende auf etwa 22.500 Personen an, rund 70 Prozent davon waren osteuropäischer Herkunft. Gab es im Dezember 1944 noch sieben solcher Außenlager, waren es in der Zeit vor Kriegsende im Mai 1945 schätzungsweise um die 70. Die Haftbedingungen waren oftmals schlimmer als im Stammlager, vor allem an jenen Orten, an denen die Produktionsanlagen für Rüstungsgüter unter Tage verlegt wurden.

Je mehr sich das Netz der Außenkommandos entfaltete, desto mehr neigte sich die Geschichte des Stammlagers Natzweiler-Struthof ihrem Ende zu.

Anfang Mai 1944 kam es erneut zu einem Personalwechsel auf dem Posten des Lagerkommandanten. Josef Kramer kletterte auf der Karriereleiter nach oben und ging als Kommandant nach Auschwitz-Birkenau, ersetzt wurde er von Friedrich Hartjenstein. In dieser letzten Phase des Lagers fanden Exekutionen statt, die das bisher gekannte Ausmaß an Grausamkeit und Gnadenlosigkeit nochmals übertrafen. So wurden beispielsweise vier Frauen, Andrée Borrel, Diana Rowden, Vera Leigh und Sonia Olschanezky, die als Angehörige des englischen Geheimdienstes identifiziert wurden, zur Hinrichtung ins Lager gebracht, wo sie durch die Lagerärzte Heinrich Plaza und Werner Rohde mittels Giftspritzen ermordet wurden.

Als Kommandant der Lager Auschwitz-Birkenau und Natzweiler wurde Hartjenstein nach Kriegsende mehrfach zum Tode verurteilt.

Französische Widerstandskämpfer sollten spurlos verschwinden

Es kam in den letzten Tagen des Lagers auch zu Massentötungen an französischen Widerstandskämpfern, unter ihnen eine große Anzahl an Mitgliedern der Résistance-Gruppen Alliance und Groupe Mobile d’Alsace, die die Nazis als besonders gefährlich ansahen. Diese waren im nahegelegenen Sicherungslager in Schirmeck-Vorbrick, welches seit 1940 existierte, inhaftiert und sollten nach der Auflösung des Lagers nicht ins Freiheit gelangen. Mindestens 300 von ihnen wurden deshalb zwischen 1. und 3. September 1944 mit Lastwagen nach Natzweiler gebracht, und dort entweder im Krematorium erhängt oder mit Giftspritzen bzw. Genickschüssen getötet. Die Leichen wurden im lagereigenen Krematorium verbrannt.

Dem Lagerkommandanten Hartjenstein wurde Anfang September der Räumungsbefehl für das Lager erteilt. Die zu diesem Zeitpunkt mehr als 7000 Häftlinge wurden zwischen dem 2. und 4. September in vier Konvois per Bahn ins Konzentrationslager Dachau gebracht.

Im Oktober wurde außerdem die Entscheidung getroffen, den Hauptstab der Kommandantur, den Verwaltungsstab der Außenlager sowie übrige SS-Angehörige vom Stammlager auf die andere Rheinseite in die Nähe von Neckarelz zu verlegen, wo sich zu diesem Zeitpunkt bereits mehrere Außenlager von Natzweiler befanden. Die letzten 20 SS-Männer und zehn Häftlinge verließen am 22. November das Lager in Richtung Neckarelz. Keine 48 Stunden später trafen die ersten alliierten Truppen in Natzweiler ein.

Da die meisten Außenlager in dem noch nicht von den Alliierten eroberten Gebiet östlich des Rheins noch bis kurz vor Kriegsende fortbestanden, war die Kommandantur, also die oberste Verwaltungseinheit des Konzentrationslagers Natzweiler, die Heinrich Schwarz als sechster und letzter Kommandant von Natzweiler übernahm, zunächst nicht aufgelöst, fasste aber lediglich noch die Außenlager.

Zum ersten Mal sieht die Weltöffentlichkeit ein KZ von innen

Die ersten französischen und amerikanischen Truppen erreichten das geräumte Hauptlager am 24. November 1944. Damit ist Natzweiler-Struthof das erste von den Alliierten im Zweiten Weltkrieg befreite Konzentrationslager überhaupt.

Im Vergleich zu den großen Vernichtungslagern wie Auschwitz oder den größeren Konzentrationslagern wie Buchenwald, die erst Monate später von der Roten Armee befreit wurden, fiel die Berichterstattung über das befreite Lager Natzweiler-Struthof in der internationalen Presse begrenzt aus. Lediglich die medizinischen Experimente riefen in der breiten Bevölkerung Entsetzen hervor und brachten das Lager zu trauriger Berühmtheit. In Frankreich hingegen entwickelte sich Natzweiler-Struthof zu einem der bedeutendsten Symbole für die Besatzungsherrschaft der Nazis, die von ihnen auf französischen Boden verübten Verbrechen sowie den Mut die Entschlossenheit der Widerstandskämpfer, sich gegen die deutschen Besatzer aufzulehnen.

Von etwa 52.000 Häftlingen aus über 30 Ländern im Stammlager Natzweiler und sämtlichen Nebenlagern überlebten mindestens 17.000 die Gefangenschaft nicht. Viele starben aufgrund der kargen Mahlzeiten, mangelnder medizinischer Versorgung, Kälte und der schweren Zwangsarbeit im Steinbruch. Andere wurden in Folge von Exekutionen durch Hängen, Vergiften, Vergasen oder Erschießen oder durch die medizinischen Experimente getötet. Mit 40 Prozent war die Todesrate im Stammlager überdurchschnittlich hoch, was besonders unter Anbetracht der Tatsache, dass Natzweiler ein Straf- und Arbeitslager und nicht, wie beispielsweise Auschwitz, ein Vernichtungslager war, bemerkensewer erscheint. Im Jahr 1941 kamen 87 Prozent der Gefangenen innerhalb der ersten sechs Monate ihrer Inhaftierung um.

Die Gefangenen teilen sich bezüglich ihrer Herkunft folgendermaßen auf:

HerkunfstlandAnzahl
Polen13.606
Sowjetunion7586
Frankreich6781
Ungarn4403
Deutschland3703
Italien1690
Jugoslawien872
Niederlande676
Norwegen579
Litauen555
Luxemburg416
alle weiteren10.817
An der Stelle, an der die Asche der Toten vergraben wurde, befindet sich heute ein Mahnmal: „Erinnerung und Vaterland“.

Das Lager diente ab Dezember 1944 bis 1948 als Gefängnis für deutsche Kriegsgefangene und elsässische Kollaborateure der deutschen Besatzer. Etwa 2500 deutsche Staatsbürger – Männer, Frauen und Kinder – waren dort inhaftiert.

Die Gerichtsbarkeit über NS-Verbrechen lag in der Zeit nach Kriegsende in der Hand der Alliierten. Es wurden Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Verbrechen gegen den Frieden durch alliierte Militärgerichte verfolgt. Der deutschen Justiz oblag zunächst lediglich die Gerichtsbarkeit über NS-Verbrechen, die Deutsche an Deutschen oder an Staatenlosen begangenen hatten. In vielen Fällen wurden deutsche Gerichte aber gar nicht erst tätig. Wegen der im KZ Natzweiler begangenen Straftaten, von denen hauptsächlich nichtdeutsche Personen betroffen waren, ermittelte die französische Besatzungsmacht.

Im Rahmen des Natzweiler Trial standen die Verantwortlichen für die Ermordung der vier britischen Geheimdienstangehörigen vor einem britischen Militärgericht in Wuppertal. Die fünf Angeklagten erhielten folgende Urteile: Todesstrafe für den Arzt, der die Giftspritzen verabreichte, lebenslänglich für den damaligen Kommandant Hartjenstein, 13, zehn und vier Jahre für drei beteiligte Aufseher. Die übrigen Angeklagten wurden freigesprochen.

Zwischen Dezember 1946 und November 1947 fanden die Rastatter Prozesse statt, in denen die Hauptverantwortlichen der Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof angeklagt waren. Verhandelt wurde in diesem Zusammenhang auch die Urteile für die führenden Personen anderer Lager in Süddeutschland. Die Prozessführung war Ausdruck der politik- und sozialwissenschaftlich gestützten Überzeugung, dass die historische Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen nicht nur bei einer kleinen Clique ideologischer Überzeugungstäter, sondern darüber hinaus bei breiten gesellschaftlichen Trägergruppen lag.

Die sieben Mordverfahren gegen das hauptverantwortliche Personal des Stammlagers Natzweiler-Struthof – höhere SS-Angehörige, also Kommandanten, Lagerführer, Abteilungsleiter etc. – wurden alle eingestellt. Von 19 Verfahren gegen niedere SS-Angehörige wurden 15 eingestellt. Von den neun Verfahren, die in Bezug auf die pseudomedizinischen Versuche verzeichnet sind, wurden acht eingestellt. Die Hauptverantwortlichen für die Experimente, die NS-Ärzte Eugen Haagen und Otto Bickenbach, kamen mit milden Strafen davon. 1954 wurden beide im selben Prozess zu zwanzig Jahren Haft verurteilt, aber bereits ein Jahr später begnadigt. Ein zweites, in der Bundesrepublik eröffnetes Verfahren stellte 1966 fest, dass Bickenbach durch seine Beteiligung an den Versuchen in den Konzentrationslagern seine Berufspflichten nicht verletzt habe.

LagerkommandantUrteil
Hans HüttigDas französisches Militärgericht in Metz verurteilte Hüttig 1954 zu lebenslanger Haft. 1956 wurde er aus der Haft entlassen. Hüttig starb im Jahr 1980.
Egon ZillDas Landgericht München verurteilte Zill 1955 zu lebenslanger Haft. 1961 wurde die Haftzeit auf 15 Jahre reduziert. Zill kam 1963 frei. Er starb im Jahr 1974.
Josef KramerEin britisches Militärgericht in Wuppertal verurteilte Kramer im November 1945 zum Tod durch Erhängen. Das Urteil wurde noch im selben Jahr vollstreckt.
Friedrich HartjensteinEin britisches Militärgericht verurteilte Hartjenstein im November 1945 zu lebenslanger Haft. In weiteren Verfahren in Rastatt (1947) und Metz (1954) wurde er zum Tode verurteilt. Er starb vor der Vollstreckung 1954 in einem Pariser Gefängnis an einem Herzschlag.
Heinrich SchwarzEin französisches Militärgericht verurteilte Schwarz zum Tode. Er wurde 1947 in Baden-Baden hingerichtet.

Von den sechs Natzweiler Lagerkommandanten wurden zwar alle verurteilt, jedoch kamen drei von ihnen nach nur wenigen Jahren in Haft frei. Die zwei hingerichteten Kommandanten wurden hauptsächlich auf Basis der Verbrechen verurteilt, die sie in anderen Lagern verübt hatten.

Das ehemalige Lagergelände ist heute ein Ort des Gedenkens und der Erinnerung. Im Jahr 1960 weihte der französische Staatspräsident Charles de Gaulle das Mémorial de la Déportation ein. Seit 1965 erweitert ein Museum die Gedenkstätte. 2005 wurde das Museum Europäisches Zentrum des deportierten Widerstandskämpfers von Präsident Jacques Chirac eröffnet. 2023 besuchten so viele Besucher die Gedenkstätte Natzweiler-Struthof wie noch nie: rund 226.000.

Die Erinnerung an die schrecklichen Taten, die die Deutschen an diesem Ort den inhaftierten Menschen angetan haben, bleibt lebendig.

Teil 2 der Serie über das Konzentrationslager geht auf den Alltag der Gefangenen ein und zeichnet die Grausamkeiten, Schikanen und Lebensgefahren, denen sie tagtäglich ausgesetzt waren, nach. Individuelle Schicksale sollen zu Wort kommen.

Teil 3 legt den Fokus auf die Verfolgung der französischen Widerstandskämpfern der Résistance, die unter deutscher Besatzung unter anderem im Elsass aktiv waren und bei Gefangennahme mit besonders harten Repressionen zu rechnen hatten.


Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert