Nach 27 Jahren im Gefängnis ist der Freiburger Anarchist Thomas Meyer-Falk aus der Sicherungsverwahrung entlassen worden. Verurteilt wurde er 1997 wegen eines versuchten Bankraubs mit Geiselnahme. Mit dem Geld sollte Geld für legale und illegale linke politische Projekte organisiert werden. Er blickt zurück auf seine Zeit in Haft und sein erstes Jahr in Freiheit.
Am 29. August 2024 jährt sich meine Haftentlassung zum erstem Mal. Am späten Vormittag vor einem Jahr wurde mir jenes Telefax des OLG Karlsruhe ausgehändigt, das mir die sofortige Freilassung bescherte. Vielen Menschen durfte ich seitdem begegnen, viel habe ich erlebt.
Der Tag der Freilassung
Wie jeden Werktag saß ich am Vormittag in der Zelle und las Zeitung, als es an der Zellentüre klopfte. Ich möge umgehend zu Frau Dr. S. mitkommen, sie hätte mir etwas wichtiges mitzuteilen. Sie leitete zu diesem Zeitpunkt die Abteilung Sicherungsverwahrung, und so übergab dann sie mir das Telefax des Gerichts: die Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen meine Freilassung war verworfen worden, ich sei unverzüglich auf freien Fuß zu setzen.
Es dauerte dann doch drei Stunden bis meine Zelle leergeräumt, ich mich bei Mitinsassen verabschiedet hatte und die Kartons in einen JVA-Transporter verladen worden waren. Die Anstalt spendierte einen „Umzugsservice“, stellte zwei Beamte ab, die mich in besagtem Transporter an meine neue Wohnstätte fuhren. Wo mich Menschen solidarisch aufnahmen, zwar theoretisch wissend, wer da kommen würde, aber ohne mich wirklich zu kennen.
Zwischenzeitlich verschickte ich SMS („Ich bin frei!!“), telefonierte mit Freund*innen und schon gegen 15 Uhr stand ich am Schalter des Job-Centers. Eine Stunde später bei meiner Krankenkasse. Der Abend wurde lang, denn zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren, saß ich im Kreis von Menschen zum Abendessen zusammen.
Begegnungen
Endlich konnte ich Menschen außerhalb des Überwachungsregimes einer Haftanstalt begegnen: wann, wo und solange diese und ich es wollten, keine Bediensteten die den Besuch optisch oder akustisch überwachten. Über rund 27 Jahre Menschen nur in kahlen Besuchsräumen treffe zu können, das prägt. Zudem wird oft übersehen was Besuchspersonen auf sich nehmen: eine oft sehr weite Anreise (und auch Rückreise), die strengen Durchsuchungsmaßnahmen der Vollzugsanstalten, Monat für Monat, Jahr um Jahr. Schuhe ausziehen, sich absonden und abtasten lassend. Darüber wird nach meiner Erfahrung nicht so oft gesprochen wie es eigentlich nötig wäre.
Endlich konnte ich anrufen und angerufen werden, nicht mehr vermittelt, kontrolliert und vor allem reglementiert durch das Gefängnisregime.
Aufgaben
Dank der Unterstützung durch Radio Dreyeckland konnte ich dort bald nach der Entlassung erst ein Praktikum beginnen, welches dann in einen Bundesfreiwilligendienst überging. Dazu dann Aufgaben im politischen Bereich, Veranstalter*innen die mir die Möglichkeit gaben (und nach wie vor geben) über die Haftzeit zu erzählen. Der Versuch, Menschen die selbst von Inhaftierung bedroht sind, oder in ihrem Umfeld solche kennen, etwas aus dem gegenwärtigen Vollzugsalltag zu berichten, das womöglich ein wenig die Besorgnis zu nehmen vermag.
Die Rote Hilfe e.V. gab und gibt mir die Möglichkeit über die Hafterfahrung zu sprechen, vor und mit Menschen die selbst von Haft bedroht oder in Solistrukturen aktiv sind.
Dank eines befreundeten Verleger, Florian Günther, konnte zudem ein kleines Buch erscheinen.
Viel zu wenige ehemalige Insass*innen erleben nach ihrer Freilassung ein Ankommen in solchen Aufgaben- und diese sind etwas anderes, als bloße „Möglichkeiten“. Wir leben, so habe ich den Eindruck, in einem Überfluss von Möglichkeiten, aber erst die Aufgaben sind es, die unser Leben strukturieren, es erfüllen, Sinn vermitteln.
Stolperstellen
Viele Jahre habe ich an Orten gelebt, die geprägt waren und es weiterhin sind, von Ohnmacht. Von innerer Zerrissenheit. Von Verzweiflung. Orte, die eher (seelischen) Grabstätten glichen. Bewohnt von Menschen, die nur noch den Tod vor sich sehen und dennoch leben müssen. Bewohnt von Menschen, die selten ihre innere Leere, ihre innere Qual herausschreien sondern sich lieber betäuben: mit Psychopharmaka die die Gefängnisärzt*innen verordnen, oder mit Hilfe illegalisierter Substanzen.
Wie sehr mich dies seelisch aber ebenso auch körperlich (mit-)prägte, begann ich erst nach der Freilassung im Verlaufe der folgenden Monate zu begreifen, vor allem aber zu spüren. Nicht, dass wir nicht auch außerhalb der Gefängnisse Ohnmacht, Zerrissenheit, Verzweiflung kennen würden, aber Gefängnisse sind geradezu paradigmatische Orte, an denen Gesellschaften, oftmals innerlich besonders ohnmächtige, besonders zerrissene, besonders verzweifelte Menschen (zwangsweise) zusammenführen und aufbewahren. Stätten des Leidens. Wie Untote in Grabkammern, richten sich diese dort ein.
Schritt zu Schritt muss ich neu erlernen was es heißt, in einer Gemeinschaft von Menschen zu leben, die sich freiwillig zum Zusammenleben entschieden haben, und jeden Tag aufs neue dafür entscheiden, mit Menschen zusammen zu leben, die gelegentlich auch von ihren Dämonen begleitet werden, die aber in einem lebendigen Umfeld leben. Menschen die viel mehr von einer vorausschauenden Haltung aus Fühlen, Denken und Tun geprägt sind, welche davon ausgeht, dass es Gelegenheiten für die nächsten und ferneren Lebensschritte gibt und sie dadurch auch finden. Die trotz der Ungewissheit der Zukunft viel eher auf die Möglichkeit des Gelingens als die des Scheiterns schauen, die aus sich heraus gehen, sich weit machen, statt, wie es in den Gefängnissen eingeübte Praxis ist, sich zu verengen, all dann selbst wieder zuzulassen, ist ein (offenbar) langwieriger Prozess.
Es sind in meinem eigenen Fall also weder die finanziellen Umstände, denn mit dem Bürgergeld komme ich aus, noch wohnliche, denn ich darf immer noch dort wohnen, wo ich am 29.08.2023 eingezogen bin, noch berufliche, da ich weiterhin bei Radio Dreyeckland arbeite, die Schwierigkeiten bereiten. Zudem gibt es ein sehr freundliches, warmherziges, freundschaftliches und solidarisches Umfeld. Dies alles sind die bei vielen, vielen anderen ehemaligen Insass*innen, ganz prägnante Stolperstellen.
Die aber, so meine These, für alle Ex-Gefangenen größte Stolperstelle, so auch für mich selbst, ist das offene „sich-einlassen“ auf all das was Leben sonst so ausmacht: die Vielfalt, das Unvorhergesehene, die Unsicherheit, die Offenheit und Weite die vor uns liegt. Eben weil Gefängnisse Menschen derart umfassend prägen, vereinzeln, regredieren.
Die Zukunft
Um sich im Leben gut orientieren zu können, ist es hilfreich den Eindruck der Machbarkeit, den der Verstehbarkeit, sowie jenen der Sinnhaftigkeit zu gewinnen. Meine eigenen Ressourcen sind bescheiden, sie reichen oft nicht aus, all die Herausforderungen und Probleme die sich mir in meinem neuen Lebensabschnitt stellen, zu bewältigen. Viele Situationen verstehe ich nicht, zu sehr hat sich vieles in den letzten drei Jahrzehnten verändert. Die Erfahrung, dass mein Leben Sinn bereit hält, es sich lohnt mit Blick auf die Zukunft gezielt etwas zu unternehmen, mache ich immerhin punktuell: denn so viele Menschen sind in Haft oder von Haft bedroht, der Repressionsdruck ist hoch, und dürfte eher höher werden. Die Aufgaben alleine in diesem Bereich werden nicht ausgehen.
Aber oftmals ist es mir so, wie an einem Abgrund zu stehen, der Boden unter mir scheint zu wanken. Denn, bleiben wir bei der Situation von Gefangenen, damit zu leben, dass wir ihnen ihre Erfahrungen nicht abnehmen können, berührt mich heute viel mehr, als zu der Zeit, als ich noch selbst in Haft saß.
Doch gibt es sie: die Zukunft! Sie liegt vor uns, offen und weit wie das Meer. Gemeinsam mit anderen die Aufgaben anzugehen, vielleicht kommt es darauf einfach an.
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