Massenproteste und Straßenblockaden gegen Neugründung der AfD-Jugend in Gießen

Ausnahmezustand in Gießen: Dem Gründungskongress der AfD-Parteijugend stellen sich zehntausende AntifaschistInnen entgegen. Am Ende haben Wasserwerfer und Schlagstöcke dafür gesorgt, dass der Neuaufstellung der deutschen Faschistenjugend nichts in die Quere gekommen ist.

Zehntausende Menschen haben sich am Samstag im hessischen Gießen zusammengefunden, um auf der Straße Seite an Seite die Neugründung der AfD-Jungendorganisation „Generation Deutschland“ zu sabotieren. Seit den frühen Morgenstunden hielten Demonstrationen, Sitzstreiks und Protestcamps Partei und Polizei mächtig auf Trab.

Mehr als 200 Busse sollen es gewesen sein, die an diesem trüben Novembertag aus der ganzen Republik in Gießen eintreffen. Viele der AktivistInnen sind seit 4 Uhr auf den Beinen. Sie haben mehr als 20 Veranstaltungen in der ganzen Stadt organisiert. Die Polizei, die über das Demonstrationsverbot im Westen der Stadt wacht, spricht im Laufe des Tages von bis zu 30.000 TeilnehmerInnen auf allen Veranstaltungen – das entspricht etwa einem Drittel der Einwohnerzahl Gießens.

Polizei riegelt Gießen ab

Die Polizei riegelt die Stadt an diesem Samstag komplett ab. Kaum Verkehr ist auf den Straßen, die meisten Geschäfte in den Konsummeilen haben vorsorglich geschlossen. Auf dem Berliner Platz findet nachmittags ein Demokratie-Fest statt, organisiert vom Stadtpfarrer.

Währenddessen ziehen dutzende Demo-Züge, genannt „Finger“, durch die Stadt: Größer werdende Menschengruppen lösen sich an bestimmten Punkten auf und vereinigen sich andernorts wieder. Es herrscht permanente Alarmbereitschaft auf allen Seiten, das Geschehen bleibt über Stunden äußerst dynamisch.

INFO
Die Fünf-Finger-Taktik ist eine Proteststrategie des zivilen Ungehorsams, die darauf abzielt, Polizeiketten zu durchbrechen oder zu umgehen, indem sich der Demonstrationszug in autonome Gruppen („Finger“) aufteilt. Die Demonstranten marschieren dabei zunächst in einem geschlossenen Block und teilen sich bei polizeilichen Absperrungen in (meist fünf) Kleingruppen, die in verschiedene Richtungen gehen. Diese agieren selbständig, um sich an einem vereinbarten Punkt wieder zusammenzuschließen. Wenn Einsatzkräfte versuchen, einzelne Personen oder Gruppen aufzuhalten, reißt die Polizeikette. Durch diese taktische Konzeption werden Einsatzkräfte der Polizei zur Raumsicherung konzentriert und gebunden, während Demonstranten an den ungeschützten Stellen vorstoßen können. Quelle: Bayerisches Landesamt für Verfassungsschutz

Schon Stunden vor Sonnenaufgang beginnen erste antifaschistischen Gruppen damit, Zufahrtsstraßen zum AfD-Veranstaltungsort zu blockieren. Um 6.17 Uhr meldet die „taz“ die erste Besetzung des Gießener Ring durch die „pinke Aktionsgruppe“. Erste Bengalos werden in der Marburger Straße gezündet.

Zeitweise schaffen es die Antifa-Gruppen, Barrikaden auf Autobahnzubringern, Bundes- und Landesstraßen sowie auf allen drei Brücken über die Lahn zu errichten. Im Laufe des Vormittags dürfen dann auch die Umzüge der Jugend von SPD, Grüne und Gewerkschaften starten. Um 8 Uhr sammelt sich die Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), die nach eigenen Angaben mit 20.000 Zuhörenden größte Veranstaltung des Tages.

Am frühen Nachmittag wagt eine 30- bis 40-köpfige Gruppe am Westufer der Adenauer-Brücke den Durchbruch der Polizeiketten zu den ein paar Steinwürfe entfernten Hessenhallen. Sie werden von Wasserwerfern aufgehalten. Das Gießener Universitätsklinikum bestätigt bis zum Mittag zehn verletzte Demonstranten. Am Ende des Tages werden es 36 Personen sein, die wegen Verletzungen aufgrund Polizeigewalt behandelt werden müssen.

Vereinzelt werden Beschädigungen von Laternen und Autos gemeldet, so in den Stadteilen Lützellinden, Heuchelheim und Atzbach. Die Blockade auf der B49 mit mehr als 2000 TeilnehmerInnen räumt ein Wasserwerfer beiseite. An einer Stelle habe sie sich mit Pfefferspray gegen Steinewerfer verteidigen müssen, erklärt die Polizei irgendwann. Wie die „taz“ berichtet, soll bei Zusammenstößen mit der Polizei eine demonstrierende Person bewusstlos geworden sein.

Repressionsstaat fährt Geschütze auf

Bereits seit Freitagabend befindet sich Gießen im Ausnahmezustand. Der hessische Innenminister Roman Poseck (CDU) hatte den geplanten Protest gegen die AfD vorab verurteilt und „den größten Polizeieinsatz Deutschlands“ angekündigt: 6.000 Beamte aus 14 Bundesländern sowie Beamte der Bundespolizei dürfen mit Hubschrauber, Drohnen, Wasserwerfern und der Pferdestaffel dieses Wochenende im herbstlichen Taunus verbringen.

Um halb 1 am Samstagmittag verkündet Bundesinnenminister Alexander Dobrindt beim Landesparteitag der sächsischen CDU in Leipzig, er erkenne Gewaltbereitschaft bei einem Teil der Demonstranten. „Größten Respekt vor den Polizistinnen und Polizisten, wenn ich jetzt schon wieder sehe, wie Vermummte, wie Chaoten, wie Leute mit Bengalos, mit Fackeln, gewaltbereit auf die Polizei zugehen“, so Dobrindt. Es gebe „kein Grundrecht, das es rechtfertigt, dass man gewaltsam gegen unsere Sicherheitskräfte vorgeht.“

Bundeskanzler Friedrich Merz warnt zeitlich vor einer Faszination des Autoritären. In einer Demokratie müsse man gut diskutieren und notwendigen Streit aushalten, sagte Merz beim Landesparteitag der CDU Sachsen-Anhalts in Magdeburg. „Ich möchte, dass wir in der politischen Mitte unseres Landes zeigen, dass wir Probleme lösen können.“

AfD-PolitikerInnen, die mit dem Auto anreisen, stehen schon außerhalb der Stadt im Stau – so etwa der designierte Chef der neuen AfD-Parteijugend Jean-Pascal Hohm, einem Neonazi aus dem Umfeld des völkischen Bundestagsabgeordneten Matthias Helferich. An manchen Fahrzeugen ist das Nummerschild verdeckt. Auch die Konvois von Alice Weidel und Björn Höcke – schwarze versiegelte Limousinen mit dutzenden Polizeifahrzeugen als Begleitschutz – treffen verspätet ein. Die Szenerie dieses Aufzugs erinnert in ihrem Ausmaß an internationale Staatsempfänge.

Die auf 10 Uhr angesetzte offizielle Eröffnung des Gründungsparteitags ist mehr als zwei Stunden in Verzug und die für rund 850 Delegierte bestimmte Halle zu gerade einmal einem Viertel gefüllt. Irgendwann taucht im Netz ein Video des AfD-Bundestagsabgeordneten Julian Schmidt auf, in dem er behauptet, auf dem Weg zur Veranstaltung zusammengeschlagen worden zu sein.

Strategie und Taktik

Von Osten führen genau drei Brücken über die Lahn: die Konrad-Adenauer-Brücke und die Sachsenhäuser Brücke für den Kraftverkehr und eine etwas außerhalb liegende für Fußgänger und Radfahrerinnen. Schon wenige Personen könnten also genügen, um den Stadtverkehr in der unmittelbaren Umgebung kurzzeitig lahmzulegen und mittels passiven Widerstands und öffentlicher Disruption Bedingungen zu schaffen, die die Mobilität der anreisenden Faschisten zumindest verübergehend einschränken.

Das Treffen der Rechtsradikalen findet an zwei Tagen in den privat geführten Messehallen statt. Die Stadtverwaltung hatte die angemeldeten Gegenveranstaltungen am Dienstag wegen Sicherheitsbedenken per Verfügung vollständig auf die Ostseite verlegt. Dagegen zogen die AnmelderInnen vor Gericht, weil ein Protest in Hör- und Sichtweite des AfD-Treffens so nicht möglich sei.

Gegenstrategie und Gegentaktik

Der Hessische Verwaltungsgerichtshof bestätigte am Freitagabend die Demoverbotszone. Es spreche „Überwiegendes dafür, dass die Gefahrenprognose der Stadt Gießen rechtmäßig“ sei. „Eine aufgrund der Kürze der Zeit in aller Dringlichkeit vorgenommene Folgenabwägung wegen Gefahren für Leib und Leben der Versammlungsteilnehmer, der eingesetzten Polizei- und Rettungskräfte sowie unbeteiligter Dritter“ spreche für die Verlegung des Versammlungsortes.

„Unsere Versammlung wird gezielt weg von der Hessenhalle verlegt – also weg aus Sicht- und Hörweite der AfD-Jugend. Das ist ein schwerer Eingriff in ein zentrales Grundrecht“, erklärte Natalie Maurer, Kreisvorsitzende der Gießener Linken im Kontext des Urteils. Die Stadt habe im Vorfeld keine tragfähige Gefahrenprognose geliefert und mit falschen Behauptungen und formellen Fehlern agiert.

Auch der sofortige Gang per Eilantrag vor das Bundesverfassungsgericht bringt keinen Erfolg. Gegen 15.30 Uhr lehnte es die Beschwerde gegen die Verlegung der Kundgebungen ab. Allein der Protest des opulenten Adenauer-Busses des Zentrums für Politische Schönheit, der auf einem Privatgelände in der Nähe der Messe steht, ist nicht verboten worden. Das Bündnis Widersetzen rief die TeilnehmerInnen zu Aktionen des zivilen Ungehorsams und Blockaden auf.

Wer führt Weidels neue Scheitelarmee?

Die bisherige Jungendorganisation der AfD „Junge Alternative“ (JA) war bislang als eingetragener Verein weitgehend unabhängig von der AfD. Inhaltlich wie programmatisch präsentierte sich die JA deutlich noch extremer, was Anfang 2024 die Einstufung durch den Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextrem“ und im März diesen Jahres die Auflösung zur Folge hatte.

Angesichts der ambitionierten Pläne einer möglichen Regierungsbeteiligung will sich die AfD-Führung Skandale von unprofessionellen Mitgliedern nicht mehr leisten. Außerdem wollte sie einem drohenden Verbot zuvorkommen. Die neue offizielle Jungendorganisation soll enger an Parteistrukturen gebunden werden.

Was bleibt?

So schnell wie die Busse nach Gießen gekommen waren, so schnell waren sie auch wieder weg. Die ersten machten sich noch vor Einbruch der Dunkelheit auf die Heimreise. In der demokratischen Öffentlichkeit wird dieses Ereignis wohl länger für Beschäftigung sorgen – politisch, juristisch, strategisch. Am Ende sind die Gießener Proteste etwas Sand im Getriebe des geölten AfD-Parteiapparats und seiner Jugend gewesen, bevor wieder alles seinen gewohnten Gang ging.

Ein Ereignis dieses ereignisreichen Tages stimmt zuversichtlich: 300 Schülerinnen und Schüler von Gießener Schulen haben sich aus Widerstand gegen die „Generation Deutschland“ zum Schulstreik entschlossen und im Dienste der Demokratie die Schule geschwänzt.

„Positiv bewerten wir, dass unser Einsatzkonzept aufgegangen ist. Wir konnten über 20.000 Menschen hier ermöglichen, dass sie heute hier ihr Recht auf Versammlung wahrnehmen. Den Wasserwerfer setzen wir nicht einfach so ein“, so ein Sprecher der Gießener Polizei am Abend.

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